Ian Anderson: Irrungen und Wirrungen eines Flöten-Barden

Da steht er wieder, in der für ihn typischen Pose: Auf einem Bein, das andere angewinkelt, die Querflöte vor den Lippen, wild in sein Instrument hineinblasend, die Augen weit aufgerissen. Ian Anderson, die Ikone, bis heute für viele das Gesicht von Jethro Tull. Ein Geschichtenerzähler ist er, ein Barde mit einem Hang zu komplexen, mythologisch geprägten Kompositionen, der sich auf seinem neuen Solo-Album „Homo Erraticus“ nicht weniger als 8000 Jahre britischer Historie widmet. In der Beethovenhalle stellte er diese Chronik des „umherwandernden Menschen“ nun vor – und offenbarte dabei erste Schwächen.

 

Vom eiszeitlichen Doggerland bis hin in eine unbekannte Zukunft zog sich der rote Faden des Konzeptalbums, das allerdings musikalisch genau diese Bandbreite vermissen ließ. Die Tull-typische Mischung aus Progressive Rock, Folk und Klassik erwies sich als austauschbar, nur rudimentär den Text oder die permanent eingeblendeten, scheinbar belanglos als Collage zusammengesetzten Videofragmente aufgreifend. Alles nur Hintergrundmusik für ein Theaterstück, aber ohne stringente Diktion.

Kriegsbilder? Wurden ebenso instrumentiert wie die von Dichtern und Denkern, von Überlagerungen aus Che Guevara und Jesus, von Baywatch und The Walking Dead. Klare Aussagen fehlten, zumal die essentiellen Texte aufgrund der problematischen Akustik und eines scheinbar überforderten Tontechnikers vor allem in den lauten, vom Schlagzeug zugekleisterten Passagen nicht zu verstehen waren. Unglücklich, nicht zuletzt da Ian Andersons Stimme deutliche Einbußen hat hinnehmen müssen: Immer wieder reckte er sich sichtbar nach den hohen Tönen und ließ sich von dem jungen Sänger Ryan O'Donnell stützen, der bei aller Souveränität jenes Charisma, jene Ausstrahlung vermissen ließ, die Anderson in seiner Blütenzeit auszeichnete. Selbst die virtuosen Flötensoli des 67-Jährigen und die energetischen Tänzchen mit ein oder zwei Beinen konnten diese Mängel nicht gänzlich überdecken.

Immerhin wurde es in der zweiten Konzerthälfte etwas besser. Die stimmlichen Probleme blieben, die kompositorischen dagegen nicht. Denn nun standen nun einige der Klassiker aus den frühen Jethro-Tull-Jahren auf dem Programm, das schmissige „Too old to Rock 'n'n Roll, too young to die“ ebenso wie das für die Fans fast schon programmatische „Living in the Past“ oder die geswingte und ausgebaute Version von Johann Sebastian Bachs „Bourée“. Spannend auch das bedrohliche „Sweet Dreams“ mit seinen Prophezeiungen eines Schlafwandlers – „Songs from the Wood“ fiel dagegen ab, war nicht so geschmeidig, so elegant wie in früheren Jahren und zeigte noch einmal deutlich Andersons Schwachstellen. So brillant er auch als Flötist ist, so expressiv er immer noch zu spielen vermag, als Sänger wirkte er in der Beethovenhalle schlichtweg zu bemüht, zu angestrengt, zu wackelig. Darunter litten denn auch die größten Hits seiner Karriere, „Aqualung“ und „Locomotive Breath“, die im vergangenen Jahr, bei der „Thick as a Brick“-Tour, noch deutlich kraft- und lustvoller auf die Bühne gebracht wurden. Zwar zeigte sich das Publikum letztlich doch begeistert, jubelte und feierte den altgedienten Minstrel – aber eben für seine Vergangenheit, für das, was er einst war und bis heute symbolisiert. Es ist eine Verbeugung vor seinem Erbe. Und nicht für seine Chronik.

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