Was ist das Böse? Diese Frage wird Ferdinand von Schirach immer wieder gestellt. Er muss doch eine Antwort haben, er, der schon alles gesehen hat: Abgetrennte Köpfe, Blutlachen, Vergewaltigungsopfer, Menschen am und im Abgrund. Doch der Strafverteidiger und Autor, der im Rahmen von „Quatsch keine Oper“ in Bonn vor rund 650 Zuhörern aus seinen Büchern vorlas und über die Inhalte philosophierte, verweigerte sich einer einfachen Replik. „'Das Böse' ist ein schnell gefälltes Urteil. Doch in der Strafjustiz spielt das keine Rolle. Dort geht es um Schuld und Unschuld, nicht um Gut und Böse“, sagte er. Um Beweise. Fakten. Tatsachen.
Das System ist nicht perfekt, keiner weiß das besser als Schirach, der gleich zu Beginn mit feiner Stimme und in klaren, schlanken Sätzen vom Fall eines jungen Mädchens erzählte, das auf einem
Volksfest von einer Blaskapelle vergewaltigt wird. Schirach, damals noch frisch und unschuldig in der Juristerei, wird einer der Verteidiger der Musiker. Und schafft es zusammen mit seinen
Kollegen dank diverser Ermittlungsfehler, der Unfähigkeit des traumatisierten Opfers zu einer Identifizierung und dem Schweigen der Angeklagten, einen Freispruch zu erwirken. Die Schuldfrage?
Entfällt. „Ich habe nie gefragt, ob er es getan hat“, sagte Schirach über seinen Mandanten. „Ich wollte es nicht wissen.“
Trotz derartiger Mängel in der Rechtsprechung, die das moralische Empfinden zutiefst belasten, hält Ferdinand von Schirach die Strafprozessordnungen für einige der größten Errungenschaften der
Menschheit. „Sie achten den Menschen und schützen ihn vor sich selbst“, sagte er und verwies auf den Fall des Franzosen Jean Calas, der 1762 in Toulouse dank der „Schwarmdummheit“ und der
religiösen Verblendung der Bevölkerung Opfer eines Justizmordes wurde, obwohl er vehement seine Unschuld bestritt. Erst durch den Einsatz von Voltaire, der damit laut Schirach die Aufklärung
einläutete, konnte er posthum rehabilitiert werden.
Auch andere historische Prozesse zieht Schirach für seine Argumentation hinzu, mal trocken berichtend, dann wieder pointiert zum Schmunzeln anregend. Den Fall „Gott gegen die Menschheit“ nach dem
Sündenfall? Hätte er wahrscheinlich gewonnen und gleich noch den Schöpfer wegen der Verführung zu einer Straftat angeklagt. Das Verfahren gegen den Kapitän Tom Dudley und seinen Matrosen Edwin
Stephens, die 1884 nach einem Schiffbruch einen erkrankten Schiffsjungen töteten und aßen, nutzte er dagegen ganz ernsthaft für eine Analyse der menschlichen Moral, befragte das beeindruckte
Publikum nach Lösungsvorschlägen für das Dilemma (waren die beiden des Mordes schuldig oder nicht?) und zeigte in auf diesem Prozess aufbauenden Beispielen auf, dass Menschen zur Rettung von 400
Leben weitaus eher dazu bereit sind, mit einem Knopfdruck vier Unschuldige zu töten, als bei nur einem Opfer selbst Hand anzulegen. Damit entkräftete er den Utilitarismus, der das Glück von
vielen über das von einzelnen stellt, und zeigte zugleich, dass es mit unserer Moral nicht so weit her ist, wie wir allgemein glauben. Vier Leben opfern, 400 retten – rein rational gesehen eine
einfache Entscheidung. Moralisch jedoch nicht. Was ist gut? Und was böse?
Kommentar schreiben