Ton Steine Scherben: Diamanten im Scherbenhaufen

Wie bei so vielen wieder vereinten (und partiell erneuerten) Bands ist der Name und das damit verbundene Erbe die schwerste Bürde: Die Erwartungshaltung an die legendäre Agitpop-Formation Ton Steine Scherben, die jetzt im Rahmen der c/o pop aufgetreten sind, war zehnmal größer als alles, was fast 40 Jahre nach der Blütezeit realisierbar gewesen wäre, selbst wenn Rio Reiser noch leben würde. So wie damals sollten sie klingen, von der Zeit und dem Tod unberührt, zumindest für zwei Stunden noch einmal Aushängeschild der linken Szene sein, protestierend, agitierend, demonstrierend. Ein Anspruch, dem niemand hätte gerecht werden können. Am allerwenigsten aber die Scherben.

Dabei war das, das da von der Bühne der Live Music Hall herunterschallte, zunächst gar nicht so schlecht. Der punkige Rock mit genialen, sozialkritischen Texten wirkte erfreulich frisch, die Gitarre von Urgestein R.P.S. Lanrue jaulte ebenfalls mit trockener Brillanz. Bassist Kai Sichermann und Drummer Funky K. Götzner, die beiden anderen Musiker, die schon Mitte der 70er bei den Scherben gespielt haben, traten dagegen nicht ganz so in den Vordergrund, sorgten aber problemlos für ein solides Fundament, zu dem einige jüngere Gäste zugleich ausgelassen zu tanzen begannen. Und doch, so hörte man immer wieder im Saal: Früher war es anders. Stimmt. Vielleicht alleine schon deswegen, weil auch das Publikum anders war? Politischer, aufgeregter, rebellischer? Während es für die Generation, die die Scherben damals noch live erlebt hat, heute eher darum geht, in die Vergangenheit als in die Gegenwart zu blicken?

Natürlich gelang es den Scherben nicht, nahtlos an die alten Zeiten anzuknüpfen. Wie auch? Fast 30 Jahre lang hat es die Band nicht gegeben. Und ohne Rio Reiser, den charismatischen Frontmann, der 18 Jahre und einen Tag vor dem Konzert starb, fehlt ohnehin ein unersetzbares Element. Sänger und Gitarrist Nicolo Rovera tat dennoch sein Möglichstes – und schaffte es in manchen Momenten tatsächlich, den Zauber zu weben. Als er „Der Name ist Mensch“ anstimmte, diese fantastischen Verse intonierte, kam die Gänsehaut. Und auch Lanrue-Tochter Ella Josephine Ebsen, die zu Beginn in ihrem seidenen Morgenmantel noch etwas verschlafen wirkte, setzte sich tapfer bei „Halt dich an meiner Liebe fest“ durch, von Sekunde zu Sekunde stärker werdend.

Je mehr allerdings der typische Sprechgesang der Band in den Vordergrund kam, desto mehr wurde offenbar, dass zwar die gesanglichen Qualitäten der Nachwuchs-Scherben ausreichten, die rhetorische Ausstrahlung aber nicht. Zu sehr rezitierten sie, ohne jene Überzeugung erkennen zu lassen, die in den 70ern die Studentenschaft bewegte. Es sind nicht ihre Lieder, nicht ihre Worte, alles nur Kopie. Es fehlte an neuem Material, das Lanrue zwar im Vorfeld des Konzerts in diversen Interviews in Aussicht gestellt hat, von dem bislang aber nichts zu sehen oder zu hören ist. Zwar ist unbestritten, dass einige Scherben-Lieder heute noch genau so aktuell sind wie damals – doch das muss das Publikum auch hören und spüren können. Musikalisch und stimmlich. Ersteres gelang in der Live Music Hall, letzteres eher weniger. Schade, wenn auch nicht wirklich überraschend. Letztlich haben die Scherben damit den selben Fehler gemacht wie ihr Publikum: Sie gingen davon aus, dass man einfach da weitermachen konnte, wo man einst aufhörte. Zur Hölle mit der Zeit. Wenn das doch so einfach wäre.

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