Roger Willemsen: Mit dem Kopf in den Wolken, mit den Füßen im Matsch

„Das Hohe Haus“ ist eine Chronik der besonderen Art: Ein Jahr lang saß Autor Roger Willemsen im Bundestag, ein stummer Beobachter von Debatten, Reden und Grabenkämpfen, von gelangweilten Abgeordneten und enthusiastischen Polemikern (häufig in Personalunion), kurzum vom tiefen Fall des politischen Ideals. Im Haus der Geschichte ist er nun auf Einladung des Literaturhauses Bonn zusammen mit der Schauspielerin Annette Schiedeck und dem Radio-Moderator Jens-Uwe Krause, die – leider meist etwas zu nüchtern und emotionslos – für die Zitate zuständig waren, mit einer szenischen Lesung zu Gast.

Willemsen lässt dabei nur wenig Gutes an den Parlamentariern, deckt schonungslos einen sprachlichen Patzer nach dem anderen auf und skizziert ethisch und moralisch oft fragwürdige, manchmal gar verwerfliche Aussagen jener, die das deutsche Volk angeblich hingebungsvoll vertreten. Wenn die wachsende Armut ignoriert und kleingeredet („die Debatte wird zu sehr über materielle Aspekte geführt“) oder die massiven Rüstungsexporte mit Händen und Füßen verteidigt, ja gar bewundert werden, während Friedensaktivisten im Plenarsaal als undemokratisch bezeichnet und hinausgeworfen werden, fragt sich Willemsen zu Recht, ob der Bundestag nicht zum Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee geworden ist. Die Politiker spenden derweil ausgiebig Gesinnungsapplaus – wahrscheinlich, so lassen andere Passagen des Buches vermuten, haben sie ohnehin nicht richtig zugehört und klatschen nur aus Reflex.

Natürlich hat Willemsen ausgewählt, hat aus seinem Jahr auf der Besucherbank, das dank langer Sommerpause und noch längerer Sondierungs- und Koalitionsbildungsphase nach der Wahl immerhin etwas überschaubarer war, jene verbalen Ausrutscher in den Mittelupnkt gestellt, die am ehesten einen Aufschrei 2.0 initiieren können. Und ja, auch die Arbeit hinter den Kulissen, das Wirken in den Ausschüssen und Gremien, wo die eigentlichen Entscheidungen fallen, lässt der Autor außen vor, argumentiert daher auch eher moralisch denn politisch und stürzt sich mit Vorliebe auf Angela Merkel, die mit ihren „politischen Anästhesien“ immer wieder als Aushängeschild einer Kaste dienen muss, die sich vor allem selbst genügt und die nur deshalb den Mund zu öffnen scheint, um etwas Luft aus dem Körper zu entlassen. „Bei ihr wird der Sprechakt nur bezeichnet, nicht durchgeführt. Sie sagt, dass sie sagt, was sie gesagt hat“, kritisiert Willemsen an den Reden der Kanzlerin. Ein Triumph der Glanzlosigkeit, der leider alternativlos zu sein scheint. Denn mit Ausnahme der Linken, deren Mitglieder Willemsen ab und zu mal als rebellische Offenbarer porträtiert, scheinen die Politiker in seinen Augen keine intelligenten Positionen zu vertreten. Dampfplauderer, die sogar vor den Angehörigen der Opfer der NSU-Anschläge und im Beisein des Bundespräsidenten nach einem starken Start zunehmend schwächeln, das Interesse verlieren und lieber mit ihren Handys spielen. Entrückt in ihrer eigenen Sphäre. „Mit dem Kopf in den Wolken und den Füßen im Matsch“, schreibt Willemsen an einer Stelle. Hauptsache, man kann die Hände in Unschuld waschen und Ungeliebtes nach unten hin abstreifen, dorthin, wo man im Notfall noch drauftreten kann. Zugegeben, dieses Urteil erscheint jetzt zu pauschal, aus der Tatsache geboren, dass Satire, Kommentar und Glosse im „Hohen Haus“ stark ausgeprägt sind und Glaubwürdigkeit, berührende Schicksale und nützlicher Diskurs zumindest in der Lesung nur eine untergeordnete Rolle spielen. Einen Einblick in die Funktionsweise des politischen Systems gewährt Willemsens Buch nicht. Dafür aber einen in dessen Rhetorik. Und die befindet sich im hohen Haus öfters im Keller, als einem lieb sein dürfte.

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