Dr. Manfred Lütz: Der Wahnsinn der Normalen

„Der ist verrückt“ – das ist schnell gesagt. Tyrannen und Kriegsverbrecher werden ebenso abgestempelt wie exzentrische Künstler oder einfach nur Menschen, die etwas merkwürdig sind, anders, nicht ganz im Raster der Normalität. Ein Fehlurteil, wie Dr. Manfred Lütz jetzt im bis auf den letzten Platz ausverkauften Haus der Springmaus erklärte. Denn die meisten dieser Personen seien geistig völlig gesund. Außergewöhnlich vielleicht, im Falle von Hitler und Stalin auch erschreckend böse, aber nicht psychisch krank. „Meine Patienten haben noch nie einen Weltkrieg angezettelt“, betont er. Und würden so etwas auch nie tun. Denn problematisch, so seine satirisch zugespitzte These, sind meistens die Normalen. Oder die, die dafür gelten. Doch denen kann er leider nicht helfen. Auch wenn er es gerne würde.

Lütz weiß ganz genau, wovon er spricht: Der gebürtige Bonner ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und seit 17 Jahren Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses für psychisch Kranke in Köln-Porz. Seine Erfahrungen hat er schon verschiedentlich in Bücher hineingegossen, in der Springmaus bezieht er sich auf sein Werk „Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen.“ Mit spitzer Zunge lästert er also über Boris Becker, Paris Hilton, Naomi Campbell und Dieter Bohlen, erklärt warum der Stimmen hörende Franz von Assisi ebenso wenig einen Psychiater brauchte wie Salvator Dalí und vermittelt den Zuhörern in nur zwei Stunden alle grundlegenden Informationen für die Facharztprüfung. Unumstößlich: Im Mittelpunkt steht der leidende Mensch, nicht die Krankheit. „Wie wir mit unseren Patienten umgehen, dass ist für mich der Lakmus-Test unserer Humanität“, sagt Lütz. Soll heißen: Wenn eine Frau glücklich damit ist, Stimmen zu hören, dann sollte man ihr das nicht nehmen. Normalität? Ist langweilig im Angesicht von „weisen Schizophrenen, die aus der Eindimensionalität in die phantastischen Welten aufbrechen“ und „sprudelnden Maniker, die den Alltag bunt machen.“

Bei seiner unterhaltsamen Betrachtungsweise von Geisteskrankheiten legt Lütz allerdings großen Wert darauf, diese nicht zu verharmlosen, Betroffene nicht vorzuführen. Ganz im Gegenteil: Er will sie und ihre Probleme ernst nehmen, will auch die Hintergründe verstehen und nicht nur eine Diagnose stellen. Da wird es ganz still im Saal, als Lütz auf einmal zeigt, wie ein Schizophrener seine Umgebung wahrnimmt, für den alle Eindrücke gleich wichtig sind. Oder wenn er sich über den Mode-Begriff „Burn-Out“ ärgert, in dem sowohl wirkliche, zu behandelnde Krankheiten als auch Befindlichkeits- und existenzielle Störungen, bei denen ein Gespräch mit einem Freund viel mehr helfen könnte als eines mit einem Arzt, zusammengefasst seien. Lütz will Aufklärung leisten, will Verständnis vermitteln, fordert Dialog statt Abschieben in eine Nervenheilanstalt. Wo ohnehin alle landen könnten. Es bedarf nur der richtigen Fragen. Auch Normale sind irgendwie wahnsinnig, wenn sie immer mit dem Strom schwimmen, immer gleichgeschaltet sind, immer politisch korrekt, immer untergeordnet, eingenordet, unauffällig. Nur kann denen nicht geholfen werden. Da bleibt Lütz dann doch lieber bei seinen Patienten. Die sind (ihm) ohnehin häufig lieber. 

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