Das vergangene Jahr lässt sich in 60 Sekunden zusammenfassen. Ein paar Stich- und Schlagworte, um die entsprechenden Themen in Erinnerung zu rufen, den Rest erledigt hoffentlich das Gedächtnis. Doch wirkt dies irgendwie unbefriedigend, für das Publikum in der Beethovenhalle ebenso wie für Urban Priol. „Wenn ich jetzt ginge, würde mir mein Therapeut das nie verzeihen“, gesteht der Kabarettist und ehemalige „Anstalts“-Insasse, den das Haus der Springmaus zum „Tilt“-Jahresrückblick nach Bonn eingeladen hat. Also holt er aus – und zieht auf die ihm eigene Weise Bilanz.
Bissig, spritzig, auf dem Kreuzzug gegen seine Lieblingsfeinde aus den konservativen Medien (von Burda bis Springer) und die übliche CSU- und CDU-Riege. Mit Mama Merkel vorneweg, dem
„unbefleckten Verhängnis“, die als politischer Poltergeist Priol schon seit Jahren an den Rand des Wahnsinns bringt. Immerhin, so sagt er, habe er sich inzwischen mit ihr arrangiert.
Stimmungsaufhellern sei Dank.
Das heißt aber nicht, dass der wahrscheinlich populärste Haarkranzträger der Nation jetzt frohen Mutes ist. Nicht nach dem vergangenen Jahr, nicht nach Family-Gate, NSU- und NSA-Affären
(überraschenderweise fällt bei letzterer der Name Snowdon nicht ein einziges Mal), dem alljährlichen Jahrhunderthochwasser, einer Alptraum-Wahl (die immerhin, davon zehrt Priol noch heute, die
FDP entsorgt hat) und dem daraus resultierenden Koalitionsvertrag, bei dem der Bürger erst auf Seite 96 vorkommt. Also kurz vor dem Anhang. Soviel zu Politikern als Dienern des Volkes.
Andererseits, was soll's? Die großen Aufregerthemen scheinen ohnehin kaum noch jemanden zu interessieren. Menschenrechte werden in den Schmutz gezogen, Politiker kochen munter ihr Süppchen und
wechseln, wenn sie sich mal die Zunge verbrennen, kurzerhand zum nächsten Kochtopf – und das Volk hat derweil längst kollektiv einen „Generationenvertrag des Wurschtseins“ unterschrieben.
Zumindest was diese Dinge angeht. Stattdessen gibt es Aufregung über Hashtags, Stinkefinger und Börsenkurse. Da würde Priol sich am liebsten die Haare raufen. Dieses Desinteresse der Deutschen an
den großen sozialen Problemen: Keiner blickt mehr nach Syrien, wo Assad jetzt wieder konventionell morden darf, keiner ins Mittelmeer zu den ertrinkenden Flüchtlingen (was man nicht wahrnimmt,
muss man auch nicht aufnehmen), keiner ins eigene Land, wo jeder Fünfte unter der Armutsgrenze lebt. Keiner außer der NSA. Und einem gewissen Kabarettisten, der allerdings dabei Gefahr läuft,
sich zu verzetteln, manchmal etwas fahrig wird und gewisse Fragen schon allein aus Zeitgründen offen lassen muss.
Natürlich kommt Urban Priol nicht umher, sich die neue Regierung vorzunehmen, auch wenn die eigentlich erst in dieses Jahr gehört. Doch da gibt es so viel anzumerken. „Allein über die letzten
drei Tage könnte ich bis Ostern debattieren“, gesteht Priol. Ob Alpen-Taliban Seehofer, Kruppstahl-Röschen von der Leyen oder Dauerschwurbler Gauck, jeder kriegt sein Fett weg, auch wenn die SPD
anscheinend noch etwas Schonzeit hat und die Oppositionsminiaturen Welpenschutz genießen. Dabei greift der 53-Jährige immer wieder auf Stimm-Imitationen zurück, die im Saal begeistert aufgenommen
werden. Am Ende blickt Prophet Priol sogar noch mit einer Mischung aus Ernüchterung und Resignation in die Zukunft, hoffend, dass 2014 vielleicht ein bisschen besser wird als 2013. Und ahnend,
dass das lediglich Wunschdenken sein dürfte.
Kommentar schreiben