„Waisen“: Tote Katze in scheinschöner Welt

Am Ende ist alles zerstört. Liebe, Vertrauen, Respekt. Die Familie zerfällt, zu Tode geschützt durch ein Geflecht aus Lügen und Drohungen. Dennis Kellys Drama „Waisen“, das das Theater Bonn jetzt in einer Inszenierung von Jennifer Whigham präsentiert, könnte ohne weiteres Ausgangsbasis für einen typischen Sonntagabend-Krimi sein, „Tatort“ zum Beispiel oder „Inspektor Barnaby“.

Alles passt: Das Setting ein gutbürgerliches Haus in einem rauen Viertel, darin der sich in ständig neue Widersprüche verstrickende Liam (Grégoire Gros), der zu Beginn des Stücks blutüberströmt auf die Bühne kommt und – wie sich herauskristallisiert – einfach so einen arabischen Mitbürger zusammengeschlagen und gefoltert hat; dessen ihn bis aufs Äußerste verteidigende Schwester Helen (Johanna Wieking), die zur Vertuschung des Ganzen vor nichts zurückschreckt; und schließlich der grundsolide und doch so manipulierbare Ehemann Danny (Nico Link), der gegen Ende zum Mittäter wird und damit endgültig den ohnehin brüchigen Glauben in eine gerechte Welt verliert. Dazu psychologische Rahmenbedingungen: Die Ehe zwischen Danny und Helen ist bereits zu Beginn des Dramas angeschlagen. Die Geschwister Helen und Liam sind als kleine Kinder zu Waisen geworden und verteidigen gerade deshalb ihre fragile Rest-Familie mit Zähnen und Klauen. Und letztgenannter, offenbar ein Taugenichts, mit Ausnahme seiner Schwester ohne wirkliche soziale Sicherheit, ist bereits vorbestraft, hängt zudem mit fragwürdigen Gestalten ab, etwa dem Neonazi und Gewaltliebhaber Ian. Und jetzt also diese Tat Liams, die auf keinen Fall ans Tageslicht kommen darf, die wie eine tote Katze auf dem Sofa der scheinbar schönen Familienwelt liegt.

Auf der schlicht gestalteten Bühne der Theater-Werkstatt liefern die drei Schauspieler dieses Psycho-Dramas eine hervorragende Leistung ab. Grégoire Gros begeistert als sichtlich nervöser, sich nach Anerkennung sehnender Liam, eine soziale und psychologische Waise, der sich seinen Taten und seiner Verantwortung nicht stellt, für den man aber unweigerlich Verständnis und Zuneigung entwickelt; Nico Link verleiht dem moralisch integeren und an den Forderungen seiner Frau zerbrechenden Danny mit seiner Mischung aus Wutausbrüchen und Resignation eine erschreckend überzeugende Ader; Johanna Wieking agiert als eiskalte, berechnende und doch auch liebende Übermutter, die sich die Argumente nach ihren Vorstellungen zurechtbiegt. Und dann ist da noch der kleine schweigende Sohn Shane, bei der Premiere gespielt von Jan Phillip Will.

Leichte Schwächen offenbart das Stück allerdings in den ständigen Wiederholungen, die bis zu einem gewissen Grad als Ausdruck des Unglaubens und des Unverständnisses Sinn ergeben, von Kelly aber stellenweise inflationär gebraucht und dadurch redundant werden. Hier hätte eine mutigere Streichung den „Waisen“ zumindest nicht geschadet, zumal mit der dadurch verbundenen Erhöhung des Tempos die beeindruckende Beklemmung, die sich am Ende des Stücks einstellt, früher und damit stärker zum Tragen gekommen wäre. Auch der Diktion hätte dies gut getan: Die eigentlich angestrebte natürliche Ausdrucksweise fällt durch den vorherrschenden übertriebenen Fragmentarismus immer wieder einer Kunstsprache zum Opfer. Wer sich daran allerdings nicht übermäßig stört, wird von „Waisen“ und vor allem von den beeindruckenden Schauspielern unweigerlich in den Bann gezogen, die für ihre Leistung bei der Premiere zu Recht mit überwältigendem Applaus bedacht wurden.

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