Jeder hat Dreck am Stecken. Beziehungsweise an den Schuhen, an den Kleidern, an den Händen. Ein Feld matschigen Torfs bildet die Bühne für die letzte Inszenierung des Theaters Bonn in dieser Spielzeit – die letzte Inszenierung in Bonn überhaupt für fast alle Akteure, die mit der Ankunft des neuen Generalintendanten Bernhard Helmich ihren Job verlieren und im Morast noch einmal zeigen können, was in ihnen steckt. Was sie denn auch tun: Marina Carrs „Am Katzenmoor“ präsentiert sich unter der Regie von Ingo Berk als ungeheuer intensives Gothic-Drama mit gefühlvollem Medea-Kern, das in seiner bedrückenden Atmosphäre an Emily Brontës „Wuthering Hights“ erinnert. Getragen wird dies von einer eindrucksvoll starken Schauspielerriege, allen voran die großartige Hauptdarstellerin Nina Tomczak, die als von Verlustängsten in den Wahnsinn getriebene Hester Swane mit jeder weiteren Drehung des emotionalen Messers stärker und überzeugender wird und damit eine Meisterleistung abliefert.
Schon von Beginn an ist Hester eine gebrochene Figur: In der Kindheit von ihrer Mutter verlassen, als Zigeunerin ausgestoßen, aufgezogen vor allem von einer alten, verrückten Seherin (Tanja von
Oertzen), die mit Vorliebe Mäuse isst und als moderne Kassandra die drohende Katastrophe zwar vorhersehen, aber mit all ihren Warnungen nicht verhindern kann. Diese wird ausgelöst, als Hester ein
zweites Mal eine Trennung durchmachen muss: Ihr Ex-Mann Carthage Killbride (wunderbar souverän, rational und zugleich emotional: Hendrik Richter), der sie Jahre zuvor aus ihrer Einsamkeit
befreite, ihr einen Weg in die Gesellschaft öffnete und zugleich ein dunkles Geheimnis mit ihr teilt, will nun die junge Caroline (Julia Goldberg), Tochter des Großgrundbesitzers Xavier Cassidy
(Rolf Mautz als arroganter „Dallas“-Patriarch), heiraten und bricht seiner Frau damit das Herz. Alles ist weg: Ihre Ehe, ihr Haus, auch ihre Tochter Josie (zauberhaft verspielt und frech: die
kindliche Marina Lubrich) droht Carthage ihr zu nehmen.
Hester steht am Abgrund – und will mit Klauen und Zähnen alle mit sich reißen. Wenn sie kein schönes Leben haben darf, dann auch kein anderer. Erst recht nicht die feine, liebenswerte und in
ihren Augen völlig verweichlichte Caroline, die ihren Platz einnehmen soll. Fast schon wahnhaft attackiert sie verbal ihre teils überheblichen, oft aber auch freundlichen Mitmenschen, lehnt
barsch jeden Kompromiss, jedes halbherzige Friedensangebot ab und hält es mit dem römischen Feldherrn und Staatsmann Cato dem Älteren: „Im Übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss.“
Doch damit vernichtet sie auch sich selbst, bis schließlich nur noch der Tod als finaler Ausweg bleibt. Jetzt ist sie es, die verlassen will. „Ich werde fortgehen“, gesteht sie Josie in der
finalen Szene. „Ich werde auf dich am Katzenmoor warten“, antwortet diese – und spiegelt damit Hester wieder, die Zeit ihres Lebens auf die Rückkehr ihrer Mutter hoffte, auf die Vollendung eines
großen Märchens, das sich so nie zugetragen hat. Verwahrlost soll die kleine Hester gewesen sein, sagen die anderen – und doch voller Zuneigung zu ihrer Erzeugerin, deren Weggang sie nie
überwunden hat. Ein Schicksal, das sich nicht wiederholen soll. Und so wird die Protagonistin aus Liebe zur trauernden und sich selbst richtenden Medea, mit einer Tragik, die die des Originals
noch übersteigt. Was bleibt, ist verbrannte Erde. Und natürlich das immerwährende Moor, dem keine der Figuren jemals entkommen kann.
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