„Die Ratten“: Kritik am angenagten Theaterbetrieb

Schon im Foyer der Kammerspiele Bad Godesberg hört man das Wummern der Techno-Bässe. Die Musik des Underground, der Subkultur, der „Ratten“. Ein erster Affront für all jene, die konservatives Theater fordern, gefällige Stücke, Musicals für das Massenpublikum statt herausfordernder, anstrengender Schauspielkunst. Eine Debatte, die in Bonn schon seit Jahren vehement geführt wird, parallel zu Sparzwängen der Stadt, die dramaturgische Experimente zu einem Wagnis machen. Und so gibt Regisseur Lukas Langhoff, der im vergangenen Jahr mit seiner polarisierenden Inszenierung von Ibsens „Volksfeind“ immerhin zum ersten Mal seit 1999 wieder ein Bonner Stück beim Berliner Theatertreffen präsentieren konnte, dem Publikum mit Hauptmanns „Ratten“ eben das Gewünschte, befriedigt Voyeurismus und die Gier nach Dramatik, lässt sein Ensemble singen und tanzen – doch so überzeichnet, obszön und provokant, dass das Publikum eben nicht zur Ruhe kommt, nicht in den ersehnten Traumwelten versinken kann.

Durch den gewählten Ansatz bleibt Hauptmanns naturalistisches Drama allerdings in weiten Strecken nicht viel mehr als ein Vorwand für massive Theaterkritik. Die tragische Handlung um Frau John, die das Kind der Polin Pauline Piperkarcka als ihr eigenes ausgibt, letztere, als sich in ihr Muttergefühle regen, durch ihren Bruder Bruno (toll: Nico Link) bedrohen und damit zu Tode kommen lässt und sich letztlich, als ihr Mann von der Täuschung erfährt, vor einen Bus wirft, verkommt beinahe zur Nebensache. Einzig das brillante Spiel der Hauptfiguren rettet den Stoff: Falilou Secks Herr John, der sich in einer Szene gar vollständig entblößt duscht (Stichwort Voyeurismus), ist ein aufbrausender, zugleich aber liebevoller Malocher, während Susanne Bredehöft seine Frau als manische, vom Tod ihres ersten Kindes traumatisierte Person darstellt. Ebenfalls großartig ist Anastasia Gubareva, deren Pauline so wütend und so verletzlich zugleich ist und die stellvertretend für viele ausgenutzte ostdeutsche Mädchen steht, vernachlässigt und am Rande der Gesellschaft stehend. So wie alle Figuren der „Ratten“.

Zu denen scheinen sich die Schauspieler allesamt zu zählen. Immer wieder durchbrechen sie die Bühnenillusion, wettern gegen die Geilheit auf des anderen Leid, gegen Zuschauerwünsche – und noch mehr gegen den Theaterbetrieb an sich. Während Hauptmann den zweiten Erzählstrang über die ebenfalls im Rattenbau wohnende Schauspielertruppe um Harro Hassenreuter (Stefan Preiss) und den Wannabe-Akteur Erich Spitta (von Simon Brusis wie ein kleines Kind gespielt) noch dazu nutzte, seinen Naturalismus gegen die damals längst überholte Klassik auszuspielen, gibt Langhoff seinem Ensemble die Möglichkeit, gegen egomane Intendanten, bösartige Kritiker und die Zwänge des Kapitalismus auf die Kunst zu protestieren. Umso brisanter die Tatsache, dass alle festangestellten Darsteller im Sommer ihren Job verlieren, wenn der neue Boner Generalintendant Bernhard Helmich sein Amt antritt. Gleichzeitig hinterlässt gerade diese Tatsache einen Nachgeschmack, kann man sich doch so nicht der Vorstellung erwehren, dass all diese Angriffe mehr aus persönlichen Befindlichkeiten denn aus berechtigter Kritik am System gespeist werden. Zusammen mit der rotzig-trotzigen Inszenierung kommt das nicht bei jedem gut an: Bereits bei der Premiere am Freitag gab es neben lang anhaltendem Applaus vereinzelte Buh-Rufe. Eben der zweischneidige Lohn eines Wagnisses.

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