„Konsequenzen“: Risse in der papierenen Wirklichkeit

Mitten durch den Theaterraum geht ein symbolischer Riss. Oder ein Pfad. Auf jeden Fall eine Bühne. Eine Treppe aus Podesten, belegt mit Papier. Ein Wasserfall aus Weiß, durch zwei Beamer künstlich erweitert, und drumherum das Publikum. Dass der kleine Vorführraum des Euro-Theater Central diese Möglichkeiten bietet, hätte vor der Premiere des Multimedia-Projekts „Konsequenzen“ am vergangenen Donnerstag kaum jemand gedacht. Bis auf die Tanzkompanie bo komplex, bestehend aus Bärbel Stenzenberger und Olaf Reinecke.

Die beiden Tänzer, die seit der Inszenierung von „Gisela – Giselle“ eine ganz besondere Beziehung zu dem Theater pflegen, öffnen die Bühne, gestalten sie neu – und gehen mit den Konsequenzen auf ihre eigene Weise um. Das Ergebnis ist eine abstrakte, teils anstrengende, immer vielschichtige Tanzperformance, die jedem Zuschauer eine eigene Interpretation nicht nur erlaubt, sondern geradezu abverlangt. Eine konkrete Botschaft gibt es nicht, soll es nicht geben – lediglich Impulse, Denkanstöße, Facetten.

 

Im Mittelpunkt dieses manchmal schwer zugänglichen Geschehens stehen Beziehungen. Das Leben. Und das Spiel mit der Harmonie. Schon zu Beginn der dreiteiligen Performance herrschen trotz eines innigen Leiberknäuels Chaos und Dissonanz, hervorgebracht durch eine teilweise schmerzhafte Toninstallation Philipp Roschers und durch Video-Animationen (Lieve Vanderschaeve). Doch immer mehr hält die Ordnung Einzug: Aus dem kriechenden Gewürm werden irgendwann Puppen, schließlich Menschen, die Verwandlungen immer unterbrochen von Einspielern, für die Mitglieder des Euro-Theater-Ensembles Passagen aus im Haus gespielten Stücken eingelesen haben. Für bo komplex nur eine weitere Konsequenz des Spielortes.

 

Irgendwann ist die Harmonie da. Im Tanz ebenso wie in der Musik. „Warum muss Liebe immer nur ein Monolog sein“, fragt eine Stimme aus den Boxen – und Stenzenberger und Reinecke geben Antwort. Muss es nicht. Mit atemberaubender Körperspannung agieren die beiden nun miteinander, immer auf dem engen weißen Steg, auf diesem theatralischen Lebensband, an dem links und rechts der Abgrund lauert. Es ist die angenehmste, zugänglichste Szene des gesamten Stückes, in der die tänzerischen Qualitäten des exzellent aufeinander eingespielten Duos selbst für Laien sichtbar werden. Geschmeidige Akrobatik, die aber auch irgendwann endet. Denn, so eine mögliche Lesart, keine Beziehung hält ewig. Es kommt zum Konflikt, zum Anlügen, Ausweichen, Anöden. Zum unvollständig erscheinenden Solo- statt zum sich ergänzenden Paartanz. Und zum Wirklichkeit werdenden Riss: Zu fast Übelkeit erregendem Lärm aus den Lautsprechern zerreißen Stenzenberger und Reinecke die Papierbahnen,dekonstruieren ihre Bühnenwelt, zerstören selbst die Projektionsflächen an der Wand, so dass auch die Videoinstallation, die unberührbare Lichtkunst, in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn schon ein Riss, dann ein vollständiger.

 

Nach 70 Minuten ist alles vorbei. 70 Minuten für Geburt, Harmonie und Zerstörung. Zurück bleibt ein zutiefst aufgewühltes Publikum, in dem jeder mit dem Gesehenen anders umgeht, anders empfindet, anders interpretiert. Allgemeine Kriterien wie gut oder schlecht scheitern hier. Letztlich muss sich jeder sein eigenes Bild machen, sich auf das Wagnis einlassen, dem mutigen Projekt eine Chance geben. Und es 70 Minuten auf sich wirken lassen. Bis zur letzten Konsequenz.

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