Martin Tingvall: Treibender Raketenmann

Der Antrieb ist aus. Ein leiser Fluss von feinperliger Musik ist alles, was noch an Bewegung vorhanden ist, ein leise pulsierender Klang, der die Unendlichkeit des Kosmos zu spiegeln versucht. Das All ist an diesem Abend in der Harmonie die Quelle der Inspiration, ein Meer aus Schwärze und Stille, in dem jegliche Hektik bedeutungslos scheint. Es ist die absolute Entschleunigung, ein Zustand außerhalb der Zeit, nach dem Martin Tingvall strebt und dem er sich mit seinem aktuellen Solo-Album „The Rocket“ anzunähern versucht. Der schwedische Jazz-Pianist hat damit offenbar einen Nerv getroffen: Die erst vor wenigen Wochen veröffentlichte Platte stieg sofort auf Platz 1 der deutschen Jazz-Charts ein, und auch sein Konzert im Rahmen des Bonner Beethovenfests ist nicht nur offiziell, sondern sogar faktisch ausverkauft. Gut so: Mit feinen Melodien hebt Tingvall in der Harmonie ab, nimmt das Publikum mit auf eine Reise zu den Sternen – und lässt es dort ein wenig schweben.

Zugegeben, mit Jazz im herkömmlichen Sinn hat Tingvalls Solo-Spiel nur noch am Rande zu tun. Der 45-Jährige pflegt vielmehr einen fast schon minimalistischen Neoklassizismus, bei dem sich so manche Phrasen wieder und wieder in die Unendlichkeit zu schrauben scheinen. Der bewusst reduzierten Tonsprache innerhalb der Kompositionen stellt der charmante Mann an den Tasten dann aber seine Improvisationskünste gegenüber, dank derer das gesamte Spektrum an Farben zwischen Schwarz und Weiß anklingt. Allerdings ist sich Tingvall mitunter noch ein wenig unsicher, wohin er sich wenden soll, wenn er denn mal die von ihm vorgegebenen Fade verlässt – immerhin ist der Auftritt erst der dritte mit dem neuen Material, manches daher noch nicht so souverän, wie man es von einem Pianisten von Tingvalls Format gewohnt ist. Gut, es sind nur winzige Macken, Millisekunden des Zweifelns ob der nächsten Töne oder andere Webfehler, die das Hörvergnügen nicht wirklich stören, doch die Selbstverständlichkeit dieses Flugs in die Leere muss sich erst noch einstellen. Andererseits ist Tingvall versiert genug, um das ein oder andere Stolpern geschickt zu überspielen oder daraus gar einen bewussten Kunstschritt zu machen. Das Repertoire ist ohnehin vorhanden, zumal die Stücke von „The Rocket“ ebenso wie einige ältere Titel mit verschiedenen Elementen jonglieren. Bei „Echoes From The Past“ sind es etwa Anklänge von Frederic Chopin, bei „A Blues“ der im Titel genannte Zwölftakter und bei „Dark Matter“ eine melancholische Melodie, mit der Tingvall einen Todesfall im Freundeskreis verarbeitet. All das fügt sich unter Tingvalls Fingern zusammen zu einem musikalischen Kosmos voller Schönheit und Strahlkraft, der zum Träumen einlädt. Oder eben zum Fliegen.

Manchmal greift Martin Tingvall allerdings dennoch zu den Schubdüsen: Dann greift er zu dem groovigen, mit Boogie-Elementen verzierten „Piano Men“, eigentlich einem Stück für vier Klaviere, das er sonst mit Joja Wendt, Axel Zwingenberger und Sebastian Knauer spielt und dem er nun alleine gerecht zu werden versucht; oder aber er bedient sich doch noch bei seinem Trio und zeigt sich mit „Spöksteg“ überaus dynamisch, die Geisterspuren immer wieder mit Substanz füllend. Das Publikum genießt diese Abwechslung, bejubelt vor allem die energiegeladenen Stücke des Raketenmanns und erklatscht sich noch zwei Zugaben, bevor es in die Nacht entschwebt. Ein schöner Abend, der für manche Beethovenfest-Gänger eine echte Entdeckung bereithielt und für alle Anwesenden ein dringend benötigter Ausflug in die Entschleunigung war.

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